Das gesündeste Mehl

“Mama, welches ist das gesündeste Mehl?” Diese Frage begegnete mir letzte Woche irgendwo zwischen Windel wechseln, gleichzeitig das Mittagessen auf dem Herd im Auge behalten und zwei Schulkindern bei den Aufgaben zur Seite stehen. Corona-Alltag eben. Von dem bin ich unumstritten kein Fan, aber an dieser Stelle musste ich eine positive Seite anerkennen: endlich bekomme ich mal in voller Bandbreite mit, was die Mäuse in der Schule so lernen. Normalerweise höre ich nämlich auf die Frage, was denn heute in der Schule gemacht worden sei, nur so etwas wie “Nix besonderes” oder Geschichten von Pausenspielen und -rangeleien. Und so brauchte ich nur einen kurzen Moment, bis ich die Frage thematisch einsortiert hatte: dritte Klasse, Heimat- und Sachkundeunterricht, Wochenthema Getreide. Und sofort war mir klar, dass die gewünschte Antwort vermutlich “Vollkornmehl” sein würde.

Vollkornmehl und allgemein Vollkornprodukte gelten als eine Art Heilsbringer im gängigen Bild gesunder Ernährung. Denn ja, es stimmt, sie enthalten mehr Vitamine und Mineralstoffe als weißes Auszugsmehl, da alle Bestandteile der Körner (also das “volle Korn”) enthalten sind. Auch die Schale, und darin stecken eben besonders viele dieser Vitamine und Mineralstoffe. Und ja, Vollkornprodukte enthalten mehr Ballaststoffe, verbleiben dadurch länger im Verdauungstrakt und sättigen entsprechend länger. Daher die Empfehlung der DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung), vieler Ernährungsverbände und -berater: zu einer gesunden Ernährung gehören unbedingt Vollkornprodukte und möglichst wenig, am besten gar kein weißes Mehl. Und genau das war – wie vermutet – die gewünschte Antwort auf die Frage meiner Tochter, wie aus dem zu lesenden Text eindeutig hervorging.

Dabei ist das nur die halbe Wahrheit. Natürlich kann man sich mit Vollkornprodukten etwas wirklich Gutes tun – wenn man sie gut verträgt. Was jedoch viele nicht wissen – und was auch in dieser Form von den Fachverbänden kaum erwähnt wird – ist die Tatsache, dass Vollkornmehl auch deutlich mehr Lektine enthält als weißes Mehl. Lektine sind natürliche Abwehrstoffe, die die Getreidepflanze (und im Übrigen auch viele andere Pflanzen, z. B. Hülsenfrüchte, Tomaten und Paprika) vor Fraßfeinden schützen. Die meisten Lektine sind hitzelabil, werden also beim Kochen oder Backen zerstört. Besonders hitzebeständig ist hingegen das Lektin des Weizens, weshalb Getreideprodukte von Haus aus Lektine enthalten, und Vollkornprodukte eben mehr davon. Lektine können im menschlichen Körper bei entsprechender Veranlagung / Sensitivität Entzündungserscheinungen hervorrufen und werden von einigen Wissenschaftlern mit verschiedenen Autoimmun-Erkrankungen wie z. B. Morbus Crohn in Verbindung gebracht.

Vielen Menschen macht der Verzehr von Lektinen nichts aus, sie vertragen Vollkornprodukte gut und mögen den Geschmack. Prima, dann sind Vollkornbrot, -nudeln und was es da sonst noch gibt eine erstklassige Wahl. Manche Menschen aber reagieren auf Lektine empfindlich und entwickeln Beschwerden wie z. B. Bauchschmerzen und Blähungen. Häufig lautet das gesundheitsbewusste Credo dann: “Der Körper muss sich erst umstellen und an Vollkorn gewöhnen.” Eine Nahrumsumstellung kann sicherlich kurzfristig zu Auffälligkeiten in der Verdauung führen. Wenn diese sich jedoch nicht nach kurzer Zeit bessern, dürfen und sollten wir die Beschwerden vielmehr als Signal unseres Körpers deuten, dass diese Art von Nahrung uns nicht bekommt. Und in diesem Fall schadet uns der geringere Vitamingehalt von Weißmehl gegebenenfalls weniger als der höhere Lektingehalt von Vollkornmehl.

Ich selbst habe (zu meinen nicht-intuitiven Zeiten) mehrfach versucht, Vollkorn in unseren Speiseplan zu integrieren. Schließlich wollte ich nicht nur mich, sondern auch meine Kinder “gesund” ernähren. Brot war und ist kein Problem, solange es aus feingemahlenem Vollkornmehl gebacken ist und nicht “grob” daher kommt. Das schmeckt uns übrigens auch allen sehr gut. Ganz anders aber verhält es sich z. B. mit Nudeln, einer Lieblingsspeise meiner Mäuse (und auch der Mäusepapa und ich essen sehr gerne Nudeln). Ich habe alles versucht: nur noch Vollkornnudeln kaufen. Dann, als die einfach nicht gegessen wurden, den Vollkornanteil nach und nach steigern (mit dem Ergebnis, dass die “dunklen Nudeln” aussortiert wurden und ein Streit um die hellen entbrannte). Besonders geschmacksintensive Soßen dazu reichen (da wurde dann nach Brot zum Eintunken gefragt). Bis ich schließlich vor mir selbst eingestehen musste: auch ich mag Vollkornnudeln nicht. Kein bisschen. Nicht den Geschmack, nicht die Konsistenz. Ich empfinde bei Vollkornnudeln ungleich weniger Genuss als bei weißen Nudeln. Auch gefühlt 1000 Nudelmahlzeiten mit Vollkornpasta haben da zu keinem Gewöhnungseffekt geführt. Mein Körper sendet mir zu diesem Thema ein kontinuierliches “Nein”.

Inzwischen habe ich mich entschieden, auf dieses “Nein” zu hören. Bei uns gibt es wieder ausschließlich Nudeln aus Weißmehl, und wir alle lieben sie.

Wie ich die Frage meiner großen Maus beantwortet habe? Zunächst habe ich sie den Text nochmal lesen lassen und prompt hat sie die entsprechende Stelle selbst gefunden. Erst dann habe ich mich eingeschaltet: “Das mit den Vitaminen und Mineralstoffen stimmt. Aber nicht alle Menschen vertragen Vollkorn. Und für die, die es nicht vertragen, ist es auch nicht das gesündeste Mehl.” Nach ein paar Rückfragen und kurzer, aber angeregter Diskussion hatte die große Maus dem nichts mehr hinzuzufügen. Geschrieben hat sie dann natürlich doch nur das, was da stehen sollte. Ich hoffe und arbeite dafür, dass das Wissen um die Individualität gesunder Ernährung bald im allgemeinen Ernährungswissen und damit auch in den Schulbüchern ankommt, und dass Kinder erfahren, dass sie die Botschaften ihres Körpers ernst nehmen dürfen.

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