Das Teller-leer-Syndrom

Schon als meine große Maus zum ersten Mal feste Kost bekommen hat, habe ich es mir geschworen: keines meiner Kinder wird jemals gegen seinen Willen den Teller leer essen müssen. Wer satt ist, darf aufhören. Diese Entscheidung habe ich getroffen, lange bevor ich mich dem Konzept der intuitiven Ernährung zugewandt habe. Aber auch dort ist diese Ansicht Standard, denn Sättigung kann natürlich einsetzen, bevor der Teller leer ist, und sollte immer respektiert werden.

So sind meine Mäuse es also allesamt gewohnt, dass Reste auf dem Teller im Normalfall nicht kommentiert und schon gar nicht gerügt werden (Ausnahme: wenn der Futterneid zugeschlagen und sich eines der Kinder eine immense Portion aufgetan hat aus Angst, zu wenig abzubekommen – und der Großteil dann nach wenigen Bissen liegen bleibt). Und von diesem Recht wird regelmäßig Gebrauch gemacht. Mal sind es die Frühlingszwiebeln aus dem Salat, die am Tellerrand liegen, mal die letzte Ecke Marmeladebrot vom Frühstück oder der letzte Rest Müsli (vor allem, wenn keine Rosinen mehr drin sind).

Soweit, so gut. Die Einzige, die damit lange Zeit ein echtes Problem hatte, war ich. Unglaublich, aber wahr – manchmal habe ich mir ein Hausschwein gewünscht, dem ich die ganzen Reste geben könnte, damit ich sie nicht selber essen “muss”. Denn zum Wegwerfen sind sie ja viel zu schade, oder? Und so kam es, dass von den zahlreichen Resten auf den Tellern meiner Kinder nur ein ganz kleiner Teil seinen Weg in unseren Biomüll fand. Der weitaus größere Teil landete in meinem Bauch – und das hatte sehr oft überhaupt nichts mit meiner eigenen intuitiven Ernährung zu tun, denn in aller Regel hatte ich mich ja an meiner eigenen Portion satt gegessen. Für mich selbst war dieses “Teller-leer-Syndrom” eine echte Belastung, auch wenn ich wusste, dass ich damit nicht alleine dastehe. Viele Mütter aus meinem Bekanntenkreis haben mir schon von ähnlichen Verhaltensweisen berichtet, bisweilen konnte ich sie live dabei beobachten, und auch Berichte habe ich darüber schon gelesen. Als “Mutter-Schwein” befindet man sich also in bester Gesellschaft.

Warum aber ist das so? Warum konnte ich – wie viele andere – meinen Kindern ohne Groll und Ärger zugestehen, Reste übrig zu lassen, die ich selbst dann nicht wegwerfen konnte? Diese Frage ist leicht und schnell beantwortet: meine Kinder nicht zum Aufessen zu zwingen, ist eine rationale Entscheidung. Bei mir selbst, bei jedem einzelnen von uns, läuft da aber noch so eine Art emotionale Hintergrundmusik, die wir oftmals kaum wahrnehmen, die uns aber sehr stark beeinflusst. Die Rede ist von Glaubenssätzen.

Glaubenssätze sind Überzeugungen, die wir im Laufe unseres Lebens, meist in der Kindheit, erworben haben und die unser Verhalten prägen. Das Zusammenleben mit unserer Herkunftsfamilie, die Erziehung unserer Eltern, hat uns dabei ebenso geprägt wie die Art und Weise, in der wir unserer Umwelt als Kind erlebt haben. Glaubenssätze liegen tief in unserem Unterbewusstsein verborgen, über die meisten sind wir uns gar nicht im Klaren, und viele Glaubenssätze werden unausgesprochen von Generation zu Generation weitergegeben allein durch den Umgang der Eltern mit ihren Kindern. Sie prägen uns in fast allen Bereichen unseres Lebens – auch beim Essen.

Ich selbst musste als Kind den Teller ebenfalls nie leer essen. Meine Mutter erinnerte sich mit Grauen daran, wie sie selbst als Kind ganze Nachmittage am Küchentisch verbringen musste mit der Auflage, erst aufzustehen, wenn sie aufgegessen habe. Ich habe oft von ihr gehört, dass sie so mit meinen Geschwistern und mir nicht umgehen wollte. Daran hat sie sich gehalten, und ich zolle ihr dafür großen Respekt. Trotzdem erinnere ich mich gut an ihre zusammengepressten Lippen, ihre plötzliche schlechte Laune, wenn wir Kinder eine Speise ablehnten oder die uns aufgetane Portion nicht aufessen wollten. Heute weiß ich (auf einer rationalen Ebene): in diesen Momenten hat sie gegen ihre eigenen Glaubenssätze gekämpft. Als Kind aber habe ich vor allem die negative Schwingung der Situation wahrgenommen. Davon ist emotional viel hängen geblieben. Und ich habe mir angewöhnt, lieber weiter zu essen, auch wenn ich satt war – zugunsten der guten Stimmung.

Aber auch andere Konstellationen oder Aussagen von Eltern, wie z. B. die der hungernden Kinder in Afrika, können zum fast schon zwanghaften Leeressen des Tellers führen. Glaubenssätze könnten in diesem Zusammenhang also zum Beispiel so aussehen:

  • Ich muss aufessen, damit derjenige, der gekocht hat, nicht enttäuscht ist.
  • Ich muss aufessen, weil ich sonst undankbar bin.
  • Ich muss aufessen, damit ich geliebt werde.

Was also können wir tun, um unsere Glaubenssätze loszuwerden? Zunächst einmal müssen wir sie uns überhaupt bewusst machen – was denke ich über mich, über mein Verhalten, über meine Umwelt in bestimmten Situationen, und welches Verhalten resultiert daraus? Was ist meine Angst, was könnte passieren, wenn ich mich einmal anders verhalte? Diese Fragen zu stellen lohnt sich immer dann, wenn wir das Gefühl haben, dass an einer bestimmten Stelle immer wieder der gleiche Mist passiert, mit dem wir nicht zufrieden sind.

Haben wir einen oder mehrere Glaubenssätze entlarvt, gilt es, diese zu entkräften und neue Glaubenssätze zu etablieren, die es uns erleichtern uns so zu verhalten, wie wir das gerne möchten. Hierzu gibt es verschiedene Techniken. Ich selbst habe gute Erfahrungen damit gemacht, meine negativen Glaubenssätze anhand von konkreten Beispielen zu entkräften. Für die oben genannten Sätze könnte das so aussehen:

  • Ich zeige dem Koch meine Wertschätzung durch Komplimente und Dankesworte. Ich muss nicht aufessen.
  • Ich freue mich, dass ich mich täglich sattessen kann, und bin dafür dankbar. Ich muss nicht aufessen.
  • Meine Familie und Freunde lieben mich so, wie ich bin. Ich muss nicht aufessen.

Diese neuen Glaubenssätze muss man sich viele Male sagen, vor allem in den betreffenden Situationen, bis sie sich “echt” anfühlen und uns in Fleisch und Blut übergehen.

Heute passiert es mir nur noch gelegentlich, dass ich in den “Mutterschwein-Modus” verfalle. Die meisten Reste wandern inzwischen in den Biomüll, und ich zeige meinen Kindern nicht nur durch meine Worte, sondern auch durch mein Verhalten, dass Reste auf dem Teller ok sind.

Gibt es bei dir auch typische Situationen am Esstisch, in denen es bei euch nicht so läuft, wie du möchtest? Wünschst du dir Unterstützung bei der Auflösung deiner eigenen Glaubenssätze rund um das Thema Essen? Dann schau mal auf meine Coaching-Seite oder kontaktiere mich – gerne unterstütze ich dich bei deinen Anliegen!

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